Macht - Hilfe - Gewalt
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Vortrag Prof. Rohrmann)

Öffentliche Gegenanhörung zur Änderung des Betreuungsrechts

Vortrag Prof. Rohrmann

Es ist ja allgemein bekannt, daß das am 1. Januar 1992 in Kraft getretene neue Betreuungsrecht eben entgegen der Intention des Gesetzgebers Entmündigung und Entrechtung in Deutschland kein Ende gesetzt hat. Auch seit der Reform können Betreuer gegen den Willen der Betroffenen bestellt werden und Entscheidungen gegen ihren Willen treffen. Und mindestens in diesen Fällen entspricht die Betreuerbestellung einer faktischen Entmündigung und die Betreuungsverhältnisse haben den gleichen Charakter wie zuvor die überkommenen Vormundschaften.

Und dazu kommt, daß die Zahl der Betreuungen seit Inkrafttreten des Gesetzes kontinuierlich angestiegen ist. Jahr für Jahr neue Rekordhöchststände erreicht hat und sich seit dem Inkrafttreten des Gesetzes mittlerweile mehr als verdoppelt hat. Wir hatten also 1992 436 000 Betreuungen und im Jahr 2002 waren es schon über eine Million.

Abb. 1: Anzahl der Betreuungsfälle 1992 - 2001

aus: Jürgens/Kröger/Marschner/Winterstein 2002, S. 4, Angabe für 2002 aus: Deinert 2003b

Und da soll eben jetzt Abhilfe schaffen dieser besagte Absatz 1 des Paragraphen 1896 [BGB], den der René Talbot gerade zitiert hat. Hier soll aber nach wie vor differenziert werden eben zwischen dem »natürlichen« Willen und dem »freien« Willen. Und nur wer nachweisen kann, daß er einen freien Willen hat, der kann sich sozusagen künftig gegen die zwangsweise Zuordnung eines Betreuers wehren.

Da stellt sich die Frage, wann ist ein Wille frei und wann ist ein Wille nur natürlich. Der Gesetzesentwurf bezeichnet einen Willen dann als frei, wenn der oder die Betroffene einsichtsfähig ist und fähig ist, nach dieser Einsicht auch zu handeln. Und das ist eine Definition, die nach meinem Dafürhalten relativ wenig überzeugend ist, und zwar aus folgenden Gründen:

Jeder menschliche Wille äußert sich unter bestimmten kulturhistorischen, sozialen, infrastrukturellen, institutionellen, psychischen, biologischen und auch anderen Bedingungen, die auf jede subjektive Willensentscheidung mehr oder weniger Einfluß nehmen.

Die Freiheitsgrade, wenn man so will, jeglicher Willensentscheidung variieren von daher innerhalb eines Kontinuums, das sich ausspannt zwischen zwei Extremen: auf der einen Seite absolut freier Wille und auf der anderen Seite absolut unfreier Wille, wobei beide Extreme in der Praxis so gut wie nie vorkommen, da Menschen als bio-, psycho- und soziale Wesen tendenziell immer einerseits unter spezifischen Bedingungen handeln, von denen sie bestimmt werden, andererseits aber auch immer handelnde Subjekte ihres Lebens sind und auch auf diese Bedingungen Einfluß nehmen können, und zwar so lange sie leben.

Und es macht nach meinem Dafürhalten keinen Sinn oder ist reine Willkür, innerhalb dieses Kontinuums irgendwo eine Grenzziehung festzusetzen, ab wo ich sage: »Da ist der Wille nicht mehr frei, sondern nur noch natürlich.«

Hinzu kommt, aber da komme ich gleich noch drauf, daß es dann auch in der Praxis sehr schwer ist, festzustellen, ob im Einzelfall diese Grenze überschritten ist oder nicht.

Ich will überhaupt nicht bestreiten, daß wir immer wieder auch mit Entscheidungen und Verhaltensweisen von Menschen konfrontiert sind, die uns sinnlos, ja sogar gegen das Wohl, das vermeintliche, des Betroffenen gerichtet erscheinen und die auf den ersten Blick die Unterbindung durch physische oder auch durch chemische Gewalt nahelegen.

Aneignungstheoretisch betrachtet lassen sich solche Verhaltensweisen jedoch verstehen als höchst sinnvolle Tätigkeit, deren Sinn sich allerdings nicht aus unserem jeweiligen Sinnkontext erschließt, den wir häufig aber fälschlicherweise in der Regel zu einem allgemeingültigen Sinn an sich zu verallgemeinern geneigt sind, sondern aus dem von dem Betroffenen im Rahmen der individuellen Aneignung ihrer Welt unter gegebenen oder eventuell auch nicht gegebenen Bedingungen geschaffenen Sinn für sich.

Und dieser Sinn für sich entschlüsselt sich nicht durch Statusdiagnostik sondern zum Beispiel durch die gemeinsame Rekonstruktion der Lebensgeschichte der Betroffenen, für die es zum Beispiel der Kollege Wolfgang Jantzen aus Bremen mit seinem Konzept der rehistorisierenden Diagnostik sehr eindrucksvoll auch in der Praxis gezeigt hat.

Wenn man mal zurückblickt, dann zeigt die Geschichte der Behindertenpädagogik und auch benachbarter Fachdisziplinen, daß diese in der Vergangenheit immer wieder durch Erkenntnisse erschüttert worden sind, die zeigen, daß von der jeweils herrschenden Lehrmeinung der Fächer unterstellte Unfähigkeiten, Defekte oder Defizite der Klientel nicht etwa Wesensmerkmale der Betroffenen waren, sondern Ausdruck der Phantasielosigkeit der Fachleute, die bestimmten Menschen entsprechende Kompetenzen und Fähigkeiten einfach nicht zutrauten und sie ihnen deshalb kategorisch abgesprochen hatten.

Dazu ein Zitat:«Idioten und Imbezille sind nicht bildungs- und nicht einmal hilfsschulfähig. Es hat keinen Zweck, wie es noch immer geschieht, Schulen damit zu belasten.« Das schrieb zum Beispiel 1952 der seinerzeit von der Fachwelt, so wörtlich, als »Führer der deutschen Kinderpsychiatrie« gefeierte Werner Villinger.

Heute ist die Bildungsfähigkeit aller Menschen allgemein anerkannt und das Recht auf Schulbildung auch für Menschen, die wir heute als geistig behindert bezeichnen, in allen Bundesländern selbstverständlich.

Das ist allerdings, das nur am Rande, nicht das Verdienst etwa von Fachleuten gewesen, sondern vor allem von Eltern solcher Kinder, die sich 1958 zur Elternvereinigung Lebenshilfe zusammengeschlossen und dieses Recht gegen den damals gesammelten Sachverstand der Fachleute beharrlich für ihre Kinder eingefordert hatten. 13 Jahre, nachdem Behinderten – auch von zum Teil namhaften Fachleuten, wie z.B. Werner Villinger – sogar das Lebensrecht abgesprochen wurde.

Wenn solche Fachleute weiterhin gutachterlich entscheiden, ob ein zur Bestellung eines Betreuers geäußerter Wille frei oder nur natürlich ist, ist das Risiko hoch, und meines Erachtens zu hoch, daß diese Fachleute auch künftig ihren Sinn für sich als Sinn an sich bei der Beurteilung individueller Einsichtsfähigkeit als Maßstab zugrunde legen und die Grenzen ihrer Phantasie auf die zu begutachtenden Willensbekundungen projizieren.

Meine diesbezüglichen Bedenken lassen sich auch empirisch untermauern. Gerichtliche Maßnahmen, die die Diagnose der Einsichtsunfähigkeit voraussetzen, mithin eben auch solche Diagnosen, haben in den letzten Jahren stark zugenommen.

Parallel zu der sprunghaften Zunahme der Betreuungsverhältnisse stieg nämlich auch die Anzahl der gerichtlichen Anordnungen entrechtender Maßnahmen nach Paragraph 1906 (mit Freiheitsentziehung verbundene Unterbringung) und 1903 (Einwilligungsvorbehalt).

Ich habe jetzt hier auf der Folie nur die Unterbringungen.

Wenn Sie sich das hier mal angucken, ich hab da mal gegenübergestellt einmal die Anzahl der Unterbringungen nach dem öffentlichen Recht, nach dem Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz der jeweiligen Bundesländer und dann die privatrechtlichen nach dem Betreuungsrecht, dann kann man feststellen, die öffentlich-rechtlichen Unterbringungen sind in diesem Zeitraum, in den zehn Jahren, in Anführungsstrichen »nur« um 12 Prozent angestiegen, während die nach privatem Recht, also durch Betreuer, aufgrund entsprechender Gutachten eben, explosionsartig auf 266 angestiegen sind, von etwas mehr als 40.000 auf mittlerweile mehr als 107.000.

  Abb 2: Anträge auf mit Freiheitsentziehung verbundene Unterbringungen

Quellen: Deinert 2000; Deinert 2003b

Auch die Anzahl der angeordneten Einwilligungsvorbehalte hat sich in dieser Zeit mehr als verdoppelt.

  Abb. 3: Angeordnete Einwilligungsvorbehalte nach § 1903 BGB

Quelle: Deinert 2003a

Und dabei fällt auf, daß in dieser Zeit die Quote der entrechtenden Anordnungen in Relation zu den Betreuungszahlen weitgehend konstant geblieben, ja sogar leicht gestiegen sind. Insgesamt von 10,5 auf 11,2, bei den Unterbringungen immerhin einen knappen Prozentpunkt von 9,3 auf 10,2. Also sind sogar leicht überproportional angestiegen.

Abb. 4: Quoten angeordneter freiheitsentziehender Unterbringungen und Einwilligungsvorbehalte in Bezug zu bestehenden Betreuungen

eigene Berechnungen aus o. g. Daten

Man mag die Zunahme der Betreuungsfallzahlen mit Andreas Jürgens und anderen (das sind Juristen, die Kommentare zum Betreuungsrecht geschrieben haben,) damit erklären, ich zitiere: »daß die Abschaffung des Entmündigungsverfahrens und die Stromlinienförmigkeit der flexiblen Betreuung zu einem Herabsetzen der Schwellen geführt hat. Betreuung wird nicht als diskriminierend empfunden, zumindest nicht von den Angehörigen oder Mitarbeitern von Institutionen.« Zitatende.

So wird man aber wohl kaum die sogar leicht überproportionale Zunahme entrechtender Maßnahmen erklären können.

Solche Maßnahmen sieht das Gesetz dann vor, wenn die Betreuten aufgrund einer vermeintlichen psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung nicht einsichtsfähig sind und in diesem Zustand Willensentscheidungen treffen, die ihr vermeintliches Wohl gefährden.

Bei freiheitsentziehenden Maßnahmen muß regelmäßig ein Gutachter, in der Regel ein Arzt der Psychiatrie, hinzugezogen werden, der das bescheinigt. Das vorausgesetzt, ist davon auszugehen, daß sich zwischen 1992 und 2002 auch die Anzahl der Gutachten, die den Betroffenen Einsichtsunfähigkeit attestiert haben, mindestens verdoppelt hat.

Wenn wir das nicht auf einen Besorgnis erregenden Zuwachs der Einsichtsunfähigkeit in der Bevölkerung generell zurückführen wollen, können nur Verfahrensprobleme, genauer: eine gewachsene Bereitschaft, eine solche zu unterstellen und gutachterlich zu bescheinigen, die Ursache für diese Entwicklung sein.

In diesem Fall wäre aber die Diagnose einer Einsichtsunfähigkeit weniger ein objektiver medizinischer Befund, als vielmehr Ausdruck spezifischer Einstellungen der Gutachter.

Und diesen Eindruck bestätigt auch ein zweiter empirischer Befund. Wäre Einsichtsunfähigkeit tatsächlich ein objektivierbarer Tatbestand, so wäre damit zu rechnen, daß dieser mehr oder weniger gleichmäßig über die gesamte Bundesrepublik verteilt wäre. Tatsache ist aber, daß es hoch signifikante Unterschiede gibt.

Abb. 5: Anzahl der Unterbringungen je 1000 Einwohner 1998

Quelle: Deinert 2000

Diese Balken zeigen jetzt die Anzahl der Unterbringungen je tausend Einwohner im Jahr 1998 in den unterschiedlichen Bundesländern. Sie sehen da einen Ausreißer. Das ist etwa Bayern. [Gelächter aus dem Publikum]

Bayern, die ja im übrigen auch die ambulante Zwangsbehandlung explizit in den Bundesratsentwurf reingebracht haben.

Wenn also in Bayern 1998 etwa doppelt so viele Unterbringungen pro tausend Einwohner angeordnet wurden, wie im übrigen Bundesgebiet, und etwa zehn mal so viele, wie in den neuen Bundesländern, ohne daß dort die öffentliche Ordnung zusammengebrochen wäre, gibt es dafür nur zwei Erklärungen:

Entweder weicht die Einsichtsunfähigkeit der bayerischen Bevölkerung in diesem dramatischen Ausmaß von derjenigen der übrigen Bundesbürger ab, oder aber die Unterschiede resultieren aus unterschiedlichen Einstellungen von Gutachtern und Richtern in den einzelnen Bundesländern gegenüber Willensentscheidungen, die ihnen sinnwidrig erscheinen.

Es ist nicht zu bestreiten, daß Menschen manchmal Entscheidungen treffen, die ihren Angehörigen und damit konfrontierten Fachleuten unsinnig, und hinsichtlich der antizipierten Konsequenzen nicht verantwortbar erscheinen und unter Umständen erhebliche Probleme bereiten.

Solche Probleme müssen ohne Frage verantwortlich bewältigt werden. Entsprechende Bewältigungsstrategien müssen, aber sie können auch nur in jedem Einzelfall gefunden werden. Die Möglichkeit zur pauschalen Entrechtung der Betroffenen durch zwangsweise Zuordnung eines Betreuers erscheint jedenfalls nicht als adäquate Lösungen.

Eine solche Lösung birgt im Gegenteil das Risiko, daß adäquate Lösungen nicht gesucht und folglich auch nicht gefunden werden, sondern die Probleme lediglich geregelt und das bedeutet in vielen Fällen mural entsorgt werden.

Das ist keine abstrakte Befürchtung, sondern schon längst und in zunehmendem Maße gängige Praxis und ebenfalls empirische belegbar. Nicht nur an dem bereits dokumentierten exorbitanten Anstieg freiheitsentziehender Maßnahmen nach § 1906, sondern ebenso an der wachsenden Anzahl stationärer Unterbringungen. Zwar ist der Vorrang ambulanter vor stationärer Hilfen seit 20 Jahren als explizite Rechtsnorm im Bundessozialhilfegesetz verankert, dennoch reagiert das Sozialwesen in Deutschland bis heute auf das Risiko gesellschaftlichen Ausschlusses durch Probleme wie Behinderung, Alter, Gebrechlichkeit etc. in der Regel nicht durch Hilfen, die geeignet sind, solche Ausgrenzungen zu vermeiden oder zu überwinden, sondern durch institutionellen Einschluß in stationäre Einrichtungen mit der Konsequenz der institutionellen Verfestigung und Verstetigung des Ausschlusses.

Von Jahr zu Jahr erreicht zum Beispiel die Anzahl der Heimplätze für Behinderte in Deutschland neue Rekordhöchststände.

Abb. 6: Anzahl der Heimplätze für Behinderte

Anmerkung: Die Heimstatistik wird aufgrund freiwilliger Meldungen, die nicht immer auf denselben Stichtag bezogen sind, vom BMFSFJ erhoben. Für die Zeiträume 1997 – 1998 und 1998 – 2001 sind Daten zu unterschiedlichen Stichtagen innerhalb dieser Zeiträume zusammengefasst.

Quelle: GeroStat – Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin. Basisdaten: BMFSFJ – Heimstatistik

Sie stieg zwischen 1991 und 2001, wobei zum Schluß die Heimstatistik immer unsauberer geführt wurde, was möglicherweise auch Methode hat, sie stieg jedenfalls in diesen Zeiträumen um 55 Prozent von 103.000 auf über 160.000.

Im Bereich der Altenheime zeigt sich dieser Trend zwar nicht so klar und eindeutig, aber auch dort ist er nicht zu übersehen. Kurzfristig, aber wie die Zahlen zeigen, hat hier sogar die im Januar 1995 in Kraft getretene erste Stufe der Pflegeversicherung einen leichten Rückgang der Heimplätze bewirkt. Zur Zeit ist aber auch hier ein nie erreichter Höchststand von 715.000 Heimplätzen zu verzeichnen.

Abb. 7: Anzahl der Plätze in der stationären Altenhilfe

Quelle: GeroStat – Deutsches Zentrum für Altersfragen, Berlin. Basisdaten: BMFSFJ – Heimstatistik

Die Umsetzung der aus fachlicher Sicht nicht zu verantwortenden, aber trotzdem kontinuierlich zunehmenden Praxis der muralen Entsorgung sozialer Probleme wird durch die Beibehaltung der Möglichkeit einer zwangsweisen Unterbringung durch einen zwangsweise bestellten Betreuer naheliegenderweise sehr erleichtert, was aus fachlicher Sicht meines Erachtens nicht zu rechtfertigen ist.

Ich komme erstmal zum Schluß. Der Gesetzgeber eines seinem Anspruch nach demokratisch verfaßten, pluralistischen Rechtsstaates hat die Willensentscheidungen seiner Bürgerinnen und Bürger im Grundsatz zu respektieren. Und nur der erklärte Wille kann objektiv und valide festgestellt werden. Und dazu bedarf es noch nicht einmal eines entsprechend ausgebildeten Gutachters.

Und deswegen sollte auch allein der erklärte Wille Maßstab rechtsstaatlichen Handelns, denn nur dann wäre dem Risiko, daß in Deutschland auch in Zukunft erwachsene Menschen entrechtet und faktisch entmündigt werden, wirksam zu begegnen.

(Ja, soweit erstmal, alles andere dann in der Diskussion)

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