Macht - Hilfe - Gewalt
(Befragung)

Öffentliche Gegenanhörung zur Änderung des Betreuungsrechts

Befragung

Frage: Herr Rohrmann, von den Betroffenenverbänden der Psychiatrie-Erfahrenen und Seniorenvereinigungen wird die Forderung erhoben, den erklärten Willen des Betroffenen zum ausschlaggebenden Kriterium für eine Betreuerbestellung zu machen. Im alten wie im neuen Betreuungsrecht ist dagegen eine zwangsweise Entmündigung vorgesehen, wenn der Wille durch eine angebliche psychische Krankheit eingeschränkt ist. Sie unterstützen diese Forderung. Ich möchte gerne wissen, 1. aus welchen Gründen Sie dieser Forderung zustimmen und 2. wie sie sich die weitgehende Ignoranz hinsichtlich der Forderung in Politik und Gesellschaft erklären?

Antwort Prof. Rohrmann: Ja, die Begründung für die Forderung habe ich ja gerade weitgehend gegeben. Also nach meinem Dafürhalten ist es nicht möglich, seriös einen freien von einem natürlichen Willen zu unterscheiden. Das ist nach meinem Dafürhalten reine Willkür.

Wie ich mir die Ignoranz der unterschiedlichen Politiker vorstelle. Ja, da kann ich auch nur versuchen, den jeweiligen Sinn für sich versuchen zu entschlüsseln. Das fällt natürlich relativ schwer. Also zum einen, denke ich, gibt es da einen gewissen Konservativismus. Manche Leute können sich halt nicht vorstellen, daß bestimmte Probleme nicht eben so gelöst werden. Wie soll ich das erklären?

Vielleicht ein Beispiel. Ich hatte das vorhin schon dem René Talbot erzählt. Ich war 1983, das ist schon einige Zeit her, mal auf einer Tagung zu dem Titel »Der Mythos vom 'harten Kern'«. Die wurde veranstaltet von der Fachgruppe Geistig Behinderte der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie. Und es ging um diese übliche Argumentationsfigur: ja, diese Anstalten, wir brauchen sie ... Da sind sicherlich viele drin, die da nicht rein gehören, aber für einige brauchen wir sie doch. Es gibt so einen harten Kern, bei dem geht's nicht anders.

Und da plänkelte da so ne Diskussion immer so hin und her. Und dann kamen insbesondere die deutschen Anstaltsvertreter und die hatten dann immer einen, da ging das nicht. Den haben sie dann also ganz plastisch beschrieben, das waren also Monster, hatte man das Gefühl. Jedenfalls, da ging das nicht.

Und natürlich konnte man jetzt nicht für jeden Einzelfall ad hoc so sagen, ja, so würd's möglicherweise gehen. Und da kam irgendwann ein Psychiater aus Italien, der Antonio [Slavitsch] aus Genua, der platzte dann irgendwann und sagte:«Ihr Deutschen. Ihr braucht immer erst ne Endlösung, eh ihr nicht jedes Problem gelöst habt, macht ihr nix.« Und dann hat er so die Idee der Psychiatriereform, die ja gerade damals fünf Jahre alt war, in Italien erklärt und hat gesagt:»Natürlich haben wir damit erst mal die Probleme nicht gelöst. Aber wir haben ihre Entsorgung verhindert. Die können jetzt nicht mehr eingesperrt werden, sondern die Probleme müssen da gelöst werden, wo sie entstehen. Da müssen jetzt Infrastrukturen entstehen. Und die entstehen nicht, solange sozusagen die Möglichkeit der Entsorgung immer noch besteht.«

Mit einer Vorsorgevollmacht liegt ja ein rechtliches Instrument vor, mit dem die Selbstbestimmung umfassend gesichert werden kann. Weshalb ist sie aber erst nötig, um sich vor unerwünschten psychiatrischen Zwangsmaßnahmen zu schützen. Warum muß es nicht umgekehrt so sein, daß es eine Vorausverfügung gibt, mit der diese weitgehenden Eingriffe in die Grundrechte durch den Betroffenen ausdrücklich legitimiert werden und damit dem sonst üblichen medizinischen Prinzip Genüge getan wird?

Also grundsätzlich bin ich erst mal der Meinung, es müßte genau umgekehrt sein. Daß es noch so ist, das hat verschiedene Gründe. Wir müssen vielleicht sehen, das ganze alte Entmündigungsrecht und auch unser paternalistischer Fürsorgestaat hat ja im Prinzip seine Wurzeln, die noch so aus der Zeit des Kaiserreichs resultieren. Das ganze Anstaltswesen, das ganze Heimwesen, was heute wie gesagt nach wie vor stark im sozialen Sektor dominiert, kommt ja sozusagen aus dieser Zeit, ist damals entstanden. Damals hat man sozusagen den notleidenden Untertanen entsprechend unterstützen, aber eben in diesem Sinne paternalistisch unterstützen wollen. Und offensichtlich sind sozusagen Entwicklungen, wie Demokratie und Selbstbestimmung, bislang noch an den Menschen, oder in den Köpfen derer, die derzeit nicht davon betroffen sind, an den Menschen vorbeigegangen.

Die werden nach wie vor gewissermaßen wie Untertanen behandelt, ja, wie eben zur Zeit des Kaiserreiches auch.

Seit der Spiegel-Veröffentlichung im letzten Sommer wissen wir von vielen - von Ärzten aus Gewinnstreben - erfundenen Krankheiten, unter anderem zum Beispiele das sog. "Sissi-Syndrom". Da laut diesem Bericht die sogenannten psychische Krankheiten eine besonders hohen Anteil an erfundenen Krankheiten aufweisen, stellt sich die Frage, ob das psychiatrische Krankheitskonzept als solches nicht selbst eine Erfindung ist, die dazu dient, Medizinern die Kompetenz und das Recht zur Lösung nichtmedizinischer Probleme zuzusprechen und schwerwiegende Eingriffe in die Freiheit der Betroffenen durch Zwangsbehandlungen und Internierungen in psychiatrischen Kliniken zu legitimieren.

Wie beurteilen Sie den Gehalt psychiatrischer Gutachten bzw. was halten Sie von einem vollständigen Verzicht auf diese Gutachten im Rahmen des Vormundschaftsverfahrens?

Was mich speziell noch interessieren würde bei Zwangsbegutachtung: Es gibt da so technische Fragen, weil manchmal ist das so, daß auch die Unterschriften von Vorsorgevollmachten angezweifelt werden, wo teilweise irgendwo so ein Gutachter herangezogen wird, um eine rückwärtige Begutachtung dann durchzuführen. Teilweise unter Zwangsmaßnahmen oder in psychiatrischen Anstalten. Die Frage: wie weit ist es technisch überhaupt erst mal greifbar oder ... wenn ein Gutachter da jegliche Zwangsbegutachtung rückwärtig, also rückwärtig zu begutachten und wieweit es überhaupt erst mal integer ist, um überhaupt an diese, naja ...

Ja, also, ob dieser Katalog der psychischen Krankheiten, wie er da etwa wie im ICD-10 zusammengestellt ist, ob dieser Katalog wirklich Krankheiten benennt, darüber wird ja auch innerhalb von Fachkreisen gestritten. Daß dieses »Sissi-Syndrom« sozusagen eine erfundene Krankheit, die systematisch durch eine PR-Agentur gepuscht wurde, wo sogar ein Fachbuch zu entstanden ist, was auch im Auftrag dieser PR-Agentur ..., Das ist bekannt, daß das also eine Erfindung ist, das ist, denke ich, nachgewiesen.

Im Hinblick auf Krankheiten, wie etwa »Schizophrenie, das Heilige Symbol der Psychiatrie« [T. Szasz] oder so, darüber wird gestritten, ob da etwa Kraepelin oder Bleuler die Schizophrenie entdeckt oder nur erfunden haben. Das wissen wir nicht. Das Problem der Validität psychiatrischer Diagnosen hab ich ja gerade am Beispiel von Einsichtsfähigkeit versucht darzustellen. Das ist in der Tat eines, wo ich meine großen Zweifel hab.

Man wird mir von Seiten von Psychiatern vorwerfen, ich sei kein Psychiater, könnte darüber nicht urteilen. Es gibt aber durchaus einige Empirien, also die mich zumindest nachdenklich machen.

Sie wissen ja alle, daß vor einigen Jahren etwa ein Postbeamter für etwa solche Verfahren psychiatrische Gutachten als falscher Psychiater - sie kennen alle diese Geschichte von Gert Postel - vorgelegt haben. Und die Qualität dieser Gutachten ist nie in Frage gestellt worden. Die Qualität war so gut, zumindest nach Auffassung aller Beteiligten (die sie nicht angezweifelt haben), daß er sogar sein Honorar behalten konnte, was er für diese Gutachten bekommen hat.

Und in der Zeit, als er in Flensburg Psychiater beim Gesundheitsamt war, ist immerhin die Anzahl der Zwangsunterbringungen um 80% gesunken, ohne daß da in Flensburg dadurch irgendwie ein öffentlicher Notstand eingetreten ist. Also von daher: solche Vorkommnisse lassen zumindest auch für mich als jemand, der sich sozusagen mit einem externen Blick mit der Psychiatrie beschäftigt, also zumindest zweifeln.

Ja, gut. Also wenn schon auf der Erscheinungsebene also die Validität von Gutachten anzuzweifeln ist, dann ist das natürlich erst recht fragwürdig.

Aber vielleicht sollte man dazu auch noch folgendes sagen: Also wir haben einfach das Problem, unser Gesundheitssystem ist sozusagen privatwirtschaftlich organisiert. Das betrifft nicht nur jetzt die Psychiatrie, sondern auch andere Bereiche. Das heißt also, jeder Arzt, auch jedes Krankenhaus ist ein kleines Unternehmen und das muß sich irgendwie »rechnen«. Der Motor sozusagen für ökonomische, für privatwirtschaftliche Betriebe ist sozusagen in erster Linie Profit. Und wenn sich der nicht realisieren läßt, dann macht das ganze keinen Sinn. Nun ist es so, daß das auf anderen Märkten das ja durchaus funktioniert, im Bereich der Medizin haben wir das Problem, die Ökonomen sprechen da von einer angebots-induzierten Nachfrage.

Sie gehen ja nicht zum Arzt und sagen: »Guten Tag, ich hätte gerne mal ne Herzklappe.«, sondern sie gehen zum Arzt und sagen: »Mir tut da was weh.« Und dann untersucht der sie und sagt: »Sie brauchen eine Herzklappe.« Und dann werden Sie Nachfragerin nach einer Herzklappe. In dem Bereich kann man noch sagen, ist in Ordnung. Wenn dann aber diese Angebotsinduzierung auch noch per Zwang erfolgt, dann wird es natürlich sehr problematisch.

An diesem Beispiel »Sissi-Syndrom« kann man ja irgendwie mittlerweile sehen, daß also das System fast auf den Kopf gestellt worden ist. Früher war es so, da gab's Krankheiten und dann hat die medizinische Wissenschaft irgendwie ne Therapiemöglichkeit oder ein Heilmittel gefunden.

Mittlerweile gibt es erst das Medikament und dann wird über eine PR-Aktion sozusagen die passende Krankheit dazu erfunden. Das gibt es sicherlich auch in anderen Bereichen.

Wie ist überhaupt die Entrechtung einer - Betreuung genannten - Entmündigung, was sie ja eigentlich ist, mit den in der Verfassung festgeschriebenen Grundsätzen, wie dem Recht auf Menschenwürde, dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und damit dem Recht auf Selbstbestimmung, dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und dem Recht auf Gleichheit und Gleichbehandlung vor dem Gesetz vereinbar?

Also, wie Juristen das passend machen, das weiß ich nicht. Ich bin juristischer Laie. Aber nach meinem gesunden Menschenverstand widerspricht sich das beides diametral.

In den Medien ist oft von skandalösen Verhältnissen bei Betreuungen berichtet worden. Wie erklären sie, dass die Rechtspraxis offenbar katastrophal die Rechte der Betroffenen vernachlässigt, obwohl die Gesetzgebung seit 1992 doch Wahlmöglichkeiten eröffnet hat?

Also das hängt zum einen natürlich damit zusammen, daß Betreuungen auch gegen den Willen der Betroffenen angeordnet werden. Nach wie vor und möglicherweise in Zukunft auch noch. Das sind natürlich denkbar schlechte Voraussetzungen dafür, daß sozusagen da ein gedeihliches Verhältnis besteht. Über die genauen Hintergründe ist bisher wenig erforscht worden, aber ich kann sozusagen aus eigenen Untersuchungen das mehrfach bestätigen. Wir führen im Moment in Hessen eine Untersuchung über Fehlplatzierungen von jüngeren Behinderten unter 60 Jahren in Einrichtungen der stationären Altenhilfe durch. Wir haben da erst so ne quantitative Erhebung gemacht und anschließend eine Befragung von Betroffenen. Ich glaube, ungefähr 8 von 30, die wir befragt haben, standen unter Betreuung. Und alle haben sozusagen durchweg ihre Betreuung als Entmündigung angesehen.

Und da kann ich ne ganze Menge Beispiele sagen. Nur eines: Da war zum Beispiel eine Frau, die litt an einer progressiven Behinderung und wollte gerne bei der Krankenkasse oder hat sogar bei der Krankenkasse ein Hilfsmittel, ne Prothese, beantragt. Dann hat die Krankenkasse Bescheid ge...: aufgrund der Progressivität, also die hat ne progressive Behinderung und außerdem ist ihr ein Bein amputiert worden, aufgrund der Progressivität der Behinderung ist eine orthopädische Prothese nicht sinnvoll, wir bewilligen allenfalls eine ästhetische Prothese, mit der man aber nicht laufen kann.

Ob das richtig ist oder nicht, das kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls wollte diese Frau sich dagegen wehren und ihr Betreuer war nicht bereit, einen Widerspruch einzulegen. Das heißt also, jedes Recht, was jeder normale Mensch hat, hätte im Gericht ja möglicherweise abgelehnt werden können. Aber sie ist überhaupt nicht in der Lage gewesen, die Rechtsmittel, die jeder Mensch hat, gegen einen Verwaltungsakt einzuwenden. Diese Rechtsmittel konnte diese Frau aufgrund der Betreuung nicht einlegen und von daher ist dann sozusagen dieser Bescheid rechtskräftig geworden.

Ich will zu der Erfindung von psychischen Krankheiten übrigens jemand zitieren, der es wissen müßte. Ich hab da ein Zitat gefunden in einem Buch das trägt den Titel »Die Gesundheitsfalle«. Der Autor ist Klaus Dörner. Der dürfte hier in diesem Kreis weitgehend bekannt sein. Dort berichtet er: »Ich habe aus zwei Zeitungen zwei Jahre lang alle Berichte über wissenschaftliche Untersuchungen zur Häufigkeit behandlungsbedürftiger psychischer Störungen gesammelt. Etwa Angst, also behandlungsbedürftiger psychischer Störungen gesammelt/etwa Angst, Depressionsstörung, Schmerzen, Süchten, Schlaflosigkeit oder Traumata. Danach habe ich die für jede Störung ermittelte Prozentzahlen addiert. Ich kam auf 210%. Jeder Bundesbürger wäre also demnach wegen mehr als zwei psychischen Störungen therapiebedürftig.«

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