Neues Deutschland, 3.5.2003, Seite 5:

NS-Verbrechen
Kampf um Würde der Euthanasieopfer
Namen Ermordeter erstmals öffentlich zugänglich


Von Peter Nowak

Betroffenenorganisationen haben den 2.Mai zum internationalen Gedenktag für die Opfer des Massenmordes an vermeintlich Geisteskranken in der Nazizeit erklärt. In diesem Jahr wurden an diesem Tag die bisher geheim gehaltenen Namen solcher Opfer
veröffentlicht. Mit dem Namen »T4« können nur wenige Menschen etwas anfangen. Dabei steht er für eines der zentralen Verbrechen in der Nazizeit, die systematische Ermordung von Menschen, die zuvor für geisteskrank erklärt wurden.

Diese Tötungsaktionen wurden von Beamten und Medizinern in einem später im Krieg zerstörten Verwaltungsgebäude in Berlin, in der Tiergartenstraße4, geplant und vorbereitet. Die Adressenabkürzung gab der T4-Aktion ihren Namen. »Noch immer wird gemeinhin der verharmlosende Begriff der Euthanasie für diese Morde gebraucht«, meint René Talbot vom Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Berlin-Brandenburg e.V. Diese Organisation versucht seit Jahren, »den ärztlichen Massenmord an völlig wehrlosen Menschen« ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Am Freitag machte der Verband bekannt, dass nunmehr die Namen von 30176 der rund 300000 Menschen, die zwischen 1939 und 1948 »unter ärztlicher Aufsicht« ermordet wurden, unter der Homepage www.iaapa.org.il/claims.htm im Internet zu finden sind. Der Verein wies dabei auf sein Zusammenwirken mit Hagai Aviel vom
israelischen Verband der Psychiatrieopfer (Association Against Psychiatric Assault) hin.

Die Datierung ist den »Psychiatrie-Erfahrenen« besonders wichtig. Tatsächlich waren die Morde an für geisteskrank erklärten Menschen mit dem Ende der Nazizeit nicht vorbei. Wie Forschungen unter anderem des Medizinhistorikers Ernst Klee deutlich machten, gingen sie noch einige Jahre weiter. Die verantwortlichen Mediziner wurden in der Regel nie strafrechtlich belangt, sondern machten in der Nachkriegszeit weiterhin Karriere. Dagegen wurden ihre Opfer nie rehabilitiert. Überlebende müssen vielmehr oft bis heute gegen Ausgrenzung und Diskriminierung ankämpfen. Mit der Veröffentlichung wollen die Initiatoren wenigstens die Würde der Opfer wieder herstellen. Dabei sind sie auch bereit, eine Gesetzesübertretung zu begehen. Denn die
Namen stammen von einer Liste aus dem Bundesarchiv. Der Ausleiher, eben jener Hagai Aviel, musste sich unterschriftlich verpflichten, keine Kopie zu erstellen.
In einem persönlichen Brief erklärte Aviel, warum er die Bestimmung dennoch ignorierte. Mit den Gleichgesinnten aus dem Berlin-Brandenburger Verein hatte er eine dreitägige öffentliche Verlesung der Namen der Opfer am Berliner Wittenbergplatz organisiert.

»Dabei wurde ich Zeuge, wie Passanten in der Liste nach den Namen ihrer Verwandten suchten, von denen sie dem Hörensagen nach vermuteten, dass sie auch ermordet worden waren, obgleich sie bisher keinen Beweis dafür hatten. Mit Hilfe der Liste konnten sie diesen Verdacht bestätigen oder eben nicht. Wir informierten sie dann, wie man im Bundesarchiv weitere Details der Geschichte ihrer Verwandten
finden kann.«Mit der Veröffentlichung von etwa zehn Prozent der Opfernamen soll
auch Druck auf die Bundesregierung ausgeübt werden. Sie soll grünes Licht für die Veröffentlichung der Namen der übrigen 90 Prozent der Ermordeten geben. Bisher wurde die Veröffentlichung mit Personenschutzgründen verweigert. Für die Psychiatriekritiker handelt es sich bei dieser bisherigen Praxis um eine fortgesetzte Verleumdung der Opfer, die statt ihres Namens nur mit einer Nummer abgespeist
werden.

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