Copyright © Psychosoziale Umschau 4/2001

MITTEILUNGEN DES BUNDESVERBANDES PSYCHIATRIE-ERFAHRENER

Das 5. Russell Tribunal

Von Matthias Seibt und Brigitte Siebrasse

Vom 29. Juni bis l. Juli fand in Berlin das Russell Tribunal zur Frage der Menschenrechte

in der Psychiatrie statt. Rene Talbot und dem Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Berlin-Brandenburg gelang es in Zusammenarbeit mit renommierten Intellektuellen der Freien Universität Berlin, die Russell-Foundation für die Belange der Psychiatrie-Erfahrenen zu gewinnen.

Leider verweigerte die »Freie« Universität Berlin wenige Wochen vor der geplanten Veranstaltung die bereits zugesagten Räume. Grund war eine Intervention der medizinischen Fakultät, die offensichtlich nicht an der Stätte ihres Wirkens mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert werden wollte.

Für die Jury konnten prominente Persönlichkeiten gewonnen werden wie der Berliner Soziologe Prof. Dr. Narr, die amerikanische Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Kate Millett (»Sexual Politics«) und der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho (»Veronika beschließt zu sterben«). Die Anklage wurde durch die Professoren George Alexander (Jura) und Thomas Szasz (Psychiatrie), beide USA, geführt.

Parallel zum 5. Russell Tribunal fand im neuen Veranstaltungsort URANIA unter gleicher Organisation das Symposion »Geist gegen Gene« statt. Obwohl das Jahr noch nicht zu Ende ist, sind wir uns sicher, die Veranstaltung des Jahres 2001 erlebt zu haben. Schließlich grenzt es an ein kleines Wunder, so viele hochkarätige Geistesgrößen geboten zu bekommen wie Ivan Illich, Ernst Klee, Prof. Gerburg Treusch-Dieter, Dr. Silja Samerski usw. usf.

Beide Veranstaltungen standen unter dem Obertitel »Freedom of Thought«. Zusätzlich konnten die Zuschauer und

Zuschauerinnen sich sonst kaum gezeigte psychiatriekritische Filme ansehen wie die von Ernst Klee.

Eröffnet wurde »Freedom of Thought« Freitagabend im Delphi Filmpalast mit einem Festakt. Es beeindruckte Kate Milletts Schilderung, wie sie für die »Support Coalition International« bei den Vereinten Nationen um den Status einer Nicht-regierungsorganisation vorsprach. Höhepunkt war eindeutig Paulo Coelhos humorvolle Schilderung seiner eigenen Psychiatrie-Erfahrungen als junger Mann. Er machte deutlich, wie sehr sein Leben damals auf der Kippe stand, welche Zufälle ihn in die Psychiatrie führten und welche anderen Zufälle ihn schließlich davor bewahrten, eine Dauerkarriere als »psychisch Kranker« anzutreten.

Erste Zeugin beim simultan in Deutsch und Englisch übersetzten Russell Tribunal war Elvira Manthey (»die Hempelsche«), die sich als Kind bereits halb ausgekleidet vor der Gaskammer fand, sich dann aber aufgrund einer unerwartet menschlichen Regung eines Arztes wieder anziehen durfte. Bis heute hat der deutsche Staat die Diagnose »erblicher Schwachsinn«, die der Aussonderung von Frau Manthey als Rechtfertigung diente, nicht für Unrecht erklärt. Von einer angemessenen

Entschädigung für das erlittene Unrecht ganz zu schweigen. Frau Manthey tritt mittlerweile leider auch auf Veranstaltungen des Scientology-Ablegers »Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte« (KVPM) auf, weil die Scientologen im Gegensatz zu den Repräsentanten des deutschen Staates in diesen Vorgängen offensichtlich Unrecht sehen. Wir sehen hier eher den deutschen Staat diskreditiert, der sich seiner eigenen Schuld nicht stellt, als Frau Manthey.

Weitere Zeuginnen und Zeugen wie der elektroschocktraumatisierte und gesundheitlich schwer geschädigte Alfred Deisenhofer machten klar, dass es auch in den Jahrzehnten nach Beendigung des Nationalsozialismus in der Psychiatrie viel Platz hat für rechtsfreie Räume. Die Nachfragen der Jury verrieten teilweise nur geringe Sachkenntnisse, was das System Psychiatrie angeht. Wahrscheinlich dominierte deswegen auch die Anklage. Für die Verteidigung der Psychiatrie war die World Psychiatric Association (WPA) und auch Berliner Psychiatrien eingeladen. Niemand erschien.

Das Urteil (im Auszug):

»Als Ergebnis der vorgetragenen Beweise, die das Tribunal bei seiner ersten Sitzung am Wochenende des 30.06. und 1.07. gehört hat, ist das Tribunal davon überzeugt, dass im Namen der Psychiatrie schwere Verstöße gegen die Menschenrechte verbreitet sind, die aber im Wesentlichen unbekannt bleiben.

In Übereinstimmung mit der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen beklagt die Mehrheit der Mitglieder der Jury zutiefst die Einsperrung von Menschen gegen ihren Willen im Namen der Psychiatrie. Die Fortsetzung dieser Praktiken ist überall eine Bedrohung der individuellen wie kollektiven Freiheit.

Wir sehen das Konzept >psychische Krankheit< und das >medizinische Modell< der Psychiatrie, mit dem menschliches Verhalten erklärt wird, als gefährlich und irreführend an, weil es deterministisch ist (insbesondere in der Bio-Psychiatrie) und damit Menschen ihrer Wahlmöglichkeit und Verantwortung beraubt. Es rechtfertigt sogar solche Konzepte wie das des >Geisteskranken< als rechtliche Kategorie, die eine völlige Verweigerung der Menschen- und Bürgerrechte ermöglicht und in Wirklichkeit dazu verwendet wird, antisoziales und kriminelles Handeln zu entschuldigen. ...«

Der komplette Text des Urteils ist unter www.freedom-of-thought.de im Internet zu finden.

Abschließend möchten wir Rene Talbot und seinen Mitstreitern für eine ungewöhnliche und außerordentliche Veranstaltung (wenn auch mit Pannen und Schwächen) danken, erst recht, da sie ein dialektischer Gegenpol ist zum Zeitgeist der kleinen Reformen. Folglich kommt ihr die demokratisch wichtige Aufgabe zu, die Psychiatrie in ihrer gesellschaftlichen Funktion von außen zu sezieren und zu hinterfragen. Dass diese schonungslose Kritik nicht nur Freude auslöst, zeigt die Getroffenheit einiger Psychiatriebefürworter, die in Folge dieser Veranstaltung das Ansehen der Psychiatrie beschädigt sehen. Auch die formale Ähnlichkeit der inhaltlichen Kritik von Antipsychiatrie und KVPM scheint einige Bürger bedauerlicherweise zu überfordern und zu einer Schmutzkampagne gegen den BPE (und das Russell Tribunal) zu animieren.


Bertrand Russell (1872-1970)
war ein britischer Mathematiker, Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur, der im 1. Weltkrieg den Kriegsdienst verweigerte und ins Gefängnis ging, sich nach dem 2. Weltkrieg gegen die atomare Aufrüstung wandte und 1967 gegen Ende seines Lebens zusammen mit Jean-Paul Sartre und Günther Anders im 1. Russell Tribunal den Völkermord der US-Amerikaner in Vietnam anprangerte.

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